Gewinnertext
Der Lebensretter
Es war gerade das neue Jahr 1210 angebrochen, als David Amersforth, ein hochgewachsener Magier mit langem, schwarzen Haar, auf seiner Kutsche in das Dorf Brückenstein fuhr, um auf dem Markt Kräuter für seine neuesten Forschungen von einem befreundeten Händler zu erwerben. Schon viele Jahren widmete sich der Zauberer den Geheimnissen der Heilkunde, seitdem er seinen Lehrmeister, der seinerzeit auf einer britischen Insel lebte, verlassen hatte. Um die Jahrhundertwende hatte er begonnen, den europäischen Kontinent zu durchqueren und Rezepte von heilenden Tränken, Salben und Elixieren zu sammeln, um mit Hilfe dieser seine Fertigkeiten als Trankbrauer zu schärfen und seinen Mitmenschen zu helfen. Nachdem er im Umgang so routiniert war, dass er die ihm bekannten Rezepte ohne Probleme anwenden konnte, konzentrierte er sich auf die Entwicklung neuer Heiltränke. Bisher war ihm noch kein Allheilmittel bekannt, mit dem er sämtliche Krankheiten besiegen und die allgemeine Lebensdauer verlängern konnte. Doch er verfolgte fieberhaft sein Ziel, ein großer Alchemist zu werden, der allen Seuchen dieser Welt trotzen und vielleicht sogar in der Lage war, über den Tod zu triumphieren. Aus diesem Grund hatte er auch sein Leben als Reisender beendet und war in der Nähe des Dorfes sesshaft geworden. Eine seiner früheren Patientinnen hatte ihm ein schönes Grundstück mit einer Hütte darauf geschenkt, in der er ungestört seinen Forschungen nachging. Manchen Dörflern war er zwar unheimlich, aber sie hielten dennoch zu ihm, da sie wussten, dass auf den wunderlichen Amersforth immer Verlass war, wenn heilende Hände benötigt wurden. An diesem Tag wurde ihm aber direkt vor Augen geführt, dass er noch weit davon entfernt war, jedem seiner Mitmenschen das Leben retten zu können.
David war dabei, seine Einkäufe vom Marktbesuch zu verladen, als er laute Schreie von einem der Höfe vernahm. Sofort eilten Männer und Frauen in die Richtung, aus der die Klagelaute zu hören waren und eine alte Dorfbewohnerin bat den Heilkundigen, sich der Gruppe anzuschließen. Natürlich wollte auch David Amersforth nach dem Rechten schauen, um mit seinen Fähigkeiten gegebenenfalls Hilfe leisten zu können. Als sie das Grundstück erreichten, wurde sogleich klar, was für den Aufruhr gesorgt hatte. Eine Gefängniskutsche des Grafen von Reining stand auf dem Gelände des Gutes und der Steuereintreiber war gekommen, um entweder den geschuldeten Betrag des Bauern Müß einzutreiben oder ihn zur Abschreckung aller anderen Menschen im Dorf festzunehmen. Im letzten Jahr hatte der Graf die zu zahlenden Abgaben um ein Vielfaches erhöht, da er inzwischen ein stattliches Alter erreicht hatte und glaubte, mehr Geld für seine Befestigungsanlagen und Soldaten aufbringen zu müssen. Nur so dachte er, könne er verhindern, dass seinem Sohn nach seinem Tod niemand das Erbe streitig machen würde. Die Frau sowie die Mutter des verschuldeten Mannes flehten beim Steuereintreiber um Gnade, doch diese zu gewähren, war ihm unmöglich. Das Schicksal der Hofleute ließ auch ihn nicht kalt, aber dennoch führte der Bevollmächtigte des Grafen seine erhaltenen Befehle aus und vollstreckte das Urteil. Er ließ Bauer Müß in die Gefangenenkutsche sperren, ehe er sich zum Gespannführer auf den Kutschbock setzte und das Kommando zum Abzug gab. Unter dem Wehklagen der beiden Frauen setzte sich die Kutsche in Gang, gefolgt von den sechs berittenen Soldaten. Die Ältere warf sich sogar schluchzend zu Boden, als der Wagen an ihr vorbeirauschte. Noch lange beobachtete der Heilkundige, wie andere Dorfbewohner versuchten, die Leidenden wieder aufzubauen, doch der Schmerz saß verständlicherweise tief. Das Leben, wie es die Hofleute bisher kannten, war zerstört worden und er hatte nichts dagegen machen können. Seine Magie einzusetzen, um den Bauern zu retten, wäre nicht in Frage gekommen, schließlich hätte der Graf ihn infolgedessen verfolgen und hinrichten lassen. Und auch mit seinen Kenntnissen in der Heilkunde kam er in diesem Fall nicht weiter. Doch es stand außer Frage, dass er handeln musste, um noch weiteres Leid zu verhindern, denn dieser Bauer würde sicher nicht der Letzte sein, den der Graf in seinem Schuldturm einkerkerte. Gedankenverloren fuhr David wenige Minuten später nach Hause und lief mit zielstrebigen Schritten in seine Hütte, nachdem er Clara, seine getreue Stute, in ihren Stall gebracht, die Muggelabwehrzauber, durch welche er das Grundstück während seiner Abwesenheit stets absicherte, aufgehoben und seine Besorgungen ausgeladen hatte. Als die Tür wieder ins Schloss gefallen war, räumte der Kräuterkundige seine Einkäufe erstmal zur Seite, denn wenn er seinen Freunden aus dem Dorf helfen wollte, musste er seine Forschungen in einem völlig anderen Fachgebiet der Alchemie fortsetzen. Seine bisherigen und die nun wiederaufzunehmenden Studien besaßen aber zumindest den gemeinsamen Nenner, dass sie in den Augen des Zauberers beide dazu dienten, Leben zu retten. Mit Bedacht hob der Mann einen Stapel Pergamente von einer alten Truhe aus Eichenholz und ging dann in die Hocke, um das eiserne Schloss mit einer gekonnten Bewegung seines Zauberstabs zu öffnen. Geräuschvoll klackend sprang das Schloss auf und wurde von David auf den Boden gelegt. Der Magier holte tief Luft, ehe er mit seiner rechten Hand nach dem Deckel der Truhe griff und diese nach Jahren wieder aufzog. Im Inneren befanden sich einige seiner wertvollsten Schätze. Von Hand geschriebene Bücher und Aufzeichnungen über einen der größten Teilbereiche der Alchemie, nämlich der Transmutation von Metallen. Bisher lag David Amersforth nicht viel daran, sich an dieser Kunst zu versuchen, aber dennoch hing sein Herz an diesen Werken, da sie von seinem alten Lehrmeister, dem Alchemisten Salvio Callus, stammten. Dieser hatte ihn zu Lebzeiten zu seinem Adepten, dem vertrauenswürdigsten Schüler, auserkoren und sein erlangtes Wissen mit ihm geteilt. Selbstverständlich war er seinem Lehrer dankbar gewesen, dass er sein Wissen und seine Forschungsergebnisse an ihn weitergegeben hatte, doch war Callus stets verschlossen gewesen, wenn man ihn nach seinen Beweggründen fragte. Daher hatte David angenommen, dass sein Meister ein Egoist gewesen war, der durch seine Gier von der Vorstellung fasziniert worden war, unedle Metalle in Gold zu verwandeln. Sein Ziel erreicht hatte er nie. Vielleicht hätte sich der ältere Zauberer seinem Lehrling irgendwann erklärt, wenn ihre gemeinsame Zeit länger angedauert hätte, doch sie trafen erst im Winter von Callus‘ Leben aufeinander, sodass sie nur wenige Jahre zusammenverbrachten, in denen der Alchemist sich voll und ganz darauf konzentrierte, so viele seiner Fähigkeiten an den jungen Zauberer weiterzugeben wie möglich. Da der Meister seinem Wunsch nachgekommen war, ihn lieber in der Herstellung von Arzneimitteln, mit denen er anderen Menschen Hilfe leisten konnte, zu unterweisen, war David die Kunst der Metallveredelung noch heute ein großes Geheimnis. Zum Glück hatte Callus ihm aber seine gesamten Aufzeichnungen hinterlassen, sodass er sich nun erneut diesen Studien widmen und das ihm noch fehlende Wissen erlangen konnte. Denn er hatte dem alten Zauberer damals Unrecht getan, auch mit der Herstellung von Gold oder Silber konnten Leben gerettet werden.
Voller Wissensdurst räumte David Amersforth seinen Arbeitstisch frei und breitete darauf die Schriften seines alten Meisters aus. Bevor er einen ersten praktischen Versuch nach der langen Zeit wagte, musste er zunächst seine theoretischen Kenntnisse auffrischen. Fieberhaft arbeitete sich der Zauberer Seite für Seite durch die Bücher und unterbrach seine Studien am Abend nur für einen kurzen Moment, wenn er eine Kerze entzündete oder sich zur Stärkung einen Krug mit Wein eingoss. Die Tage und Nächte vergingen, in denen der Zauberer die Transmutation von Metallen studierte. Zu seinem Glück pickte ihm sein Waldkauz Balthazar von Zeit zu Zeit in die Hand, um ihn daran zu erinnern, auch mal eine Pause einzulegen oder sich um das Pferd zu kümmern. Nach drei Wochen fühlte sich David bereit, seine ersten praktischen Versuche anzugehen, doch zuvor musste er für diese die Voraussetzungen schaffen. In den Aufzeichnungen seines Meisters war unter anderem die Risszeichnung eines Athanors enthalten gewesen, einer besonderen Ofenart, welche er auch noch aus seiner Zeit bei dem alten Alchemisten kannte. In dem befreundeten Dorfschmied Neppe und dessen fleißiger Tochter Adriana fand der Zauberer zwei Verbündete, die ihn bei seinem Vorhaben unterstützten und ihm nach seinen Wünschen die noch benötigten Gerätschaften herstellten. Ebenfalls konnte er bei so manchem praktischen Versuch auf die Mitwirkung dieser zwei hilfsbereiten Menschen zählen, da ihre Erfahrungen im Umgang mit erhitzten und flüssigen Metallen für ihn sehr wertvoll waren. Die von Amersforth gewählte Aufgabe stellte sich als höchst anspruchsvoll heraus und genauso wie sein Meister, schien es so, als würde er sein Ziel niemals erreichen. In einer ruhigen Minute kam ihm jedoch der Einfall, dass er sich vielleicht einfach niedrigere Ziele setzen musste, die er zum Wohle seiner Mitmenschen früher erreichen konnte. Schließlich konnte er nicht Jahrzehnte lang forschen, während der Bauer Müß und andere im Kerker versauerten. So fokussierte sich der Forscher darauf, statt reinem Gold ein Imitat herzustellen, mit dem die Schergen des Grafen getäuscht werden sollten. Der Schmied schlug zunächst eine Feuervergoldung anderer Metalle vor, doch dies hätte der Steuereintreiber vermutlich durchschaut. Viele weitere Versuche standen an, bei denen David stets schriftlich genau festhielt, wie er vorgegangen war und welche Reaktionen entstanden, wenn die unterschiedlichen Stoffe aufeinandertrafen und sich mit Sauerstoff verbanden. Nachdem die Herstellung des falschen Goldes immer wieder misslang, versuchte der Jung-Alchemist auch andere Edelmetalle wie Silber und Bronze zu fälschen. Den Durchbruch erlangte er nach mehreren Monaten, als er durch die Kombination verschiedener Komponenten, ein silbriges Metall erschaffen konnte, in dem der wahre Silbergehalt jedoch sehr gering ausfiel. Doch auch nach diesem positiven Ergebnis, in dem er ein vom Aussehen silberähnliches Metall erschaffen konnte, musste er noch mehrere praktische Versuche vornehmen, um das Verhältnis der beiden Stoffe bestmöglich abzustimmen und den ganzen Herstellungsprozess zu optimieren, wobei auch der Einsatz des richtigen Hitzeverhältnisses eine große Rolle spielte. Als er mehrere kleine Barren des gefälschten Silbers hergestellt hatte und neben ihm auch der Schmied und seine Tochter die Erzeugnisse für gut genug hielten, um den Steuereintreiber zu täuschen, machte sich ihre kleine Allianz auf den Weg, um den Dorfvorsteher, Herrn Niederrath, der zudem die größte Gaststätte im Ort betrieb, in die Pläne einzuweihen. Dieser zeigte sich etwas verhaltener und war besorgt darüber, was geschehen konnte, wenn der Graf hinter den Betrug kam. Aber auch ihm war daran gelegen, jedem seiner Mitmenschen im Dorf zu helfen, weshalb er einwilligte, kleine Teile des falschen Silbers zu verteilen, wenn ihm zu Ohren kam, dass jemand seine Steuern nicht vollständig aufbringen konnte.
Gesagt, getan. Durch die nur geringe Anzahl des gefälschten Edelmetalls, welches in Umlauf gebracht wurde, fiel der Betrug lange Zeit nicht auf und es landete kein weiterer Bürger des Dorfes mehr im Schuldturm. Zwar bemerkte der Schatzmeister im Schloss des Grafen mit seinem geschulten Auge das unechte Silber, war jedoch nicht in der Lage zu eruieren, wer mit diesem bezahlt hatte. Er unterrichtete den Grafen über diesen Missstand, doch dieser glaubte in seinem Groll auf die Nachbarn, welche schon ein Auge auf sein Land geworfen hatten und vor denen er die Grafschaft schützen wollte, dass diese seine Bürger beim Export von Waren mit falschem Silber bezahlt hatten. Zudem war der Verlust in der Menge verhältnismäßig so niedrig, dass der Adelige ohne Abstriche weiter seine Ziele verfolgen und neue Wälle zur Verteidigung errichten konnte. So hätte es eigentlich noch lange weiterlaufen können, wenn sich nicht ein Rinderwirt zu lautstark gegenüber seinen Bekannten über die Hilfe des Dorfvorstehers gefreut hätte. Einer seiner Kollegen, der nur durch Hungerleiden und großem Verzicht auf Lebensqualität im Stande gewesen war, die Forderungen zu begleichen, wurde vom Neid gepackt und brach zum Anwesen des Grafen auf, um diesen über den Betrug aufzuklären.
Das Dorf ahnte noch nichts von der herannahenden Bedrohung, als der Dorfvorsteher seine Rede zum fünfzigjährigen Bestehen der Gemeinde hielt. Zu diesem Fest hatten sich sämtliche Bewohner versammelt und es herrschte ausgelassene Stimmung. Auch David Amersforth verfolgte gemeinsam mit seinen Freunden aus der Schmiede das Fest, bis plötzlich achtzehn Männer zu Pferden auf den Marktplatz ritten. Einigen Teilnehmenden stockte der Atem, da sie den 25-jährigen Sohn des Grafen, Fabian von Reining, an der Spitze der Reiter erkannten. Sechs der berittenen Männer, bei denen es sich eindeutig um Soldaten handelte, stiegen von ihren Pferden und gingen direkt auf den Dorfvorsteher zu, während der Adelsmann ein Pergament ausrollte und die Proklamation vorlas: „Auf Befehl meines Vaters, Graf Richard von Reining, ist der Vorsteher des Dorfes, Herr Manuel Niederrath, festzunehmen. Ihm wird Betrug und Unterminierung der gräflichen Autorität vorgeworfen.“ Nachdem der junge Herr ausgesprochen hatte, ergriffen seine Mannen sogleich den Beschuldigten. Der Zauberer war bereits dabei, auf die Reitergruppe zuzugehen, um die Schuld an dem Betrug auf sich zu nehmen, da ihm schon klar war, dass ihr falsches Silber aufgeflogen sein musste und jemand Herrn Niederrath verraten hatte. Doch bevor David auf sich aufmerksam machen konnte, war ein schrecklicher Schrei über den gesamten Marktplatz zu hören. Die Mutter des eingekerkerten Bauern Müß, welche auf dem Fest am Stand des Fleischers arbeitete, hatte die Fassung verloren, als sie ansehen musste, wie nun ihr Dorfvorsteher ergriffen wurde, der doch nur allen helfen wollte. In ihrer Verzweiflung warf sie ein Beil auf den Grafensohn, der noch auf seinem Pferd saß und die Pergamentrolle in den Händen hielt. Da auch er sich durch den Schrei zu der alten Frau gedreht hatte, traf ihn das Beil direkt in die Schulter. Keuchend ließ Fabian von Reining die Rolle fallen, konnte sich jedoch dank der Hilfe des Soldaten neben ihm noch im Sattel halten. Auf dem Platz schien nun das absolute Chaos auszubrechen, Schreie und Rufe waren aus allen Richtungen zu hören und einige Dorfbewohner flüchteten bereits in ihre Häuser, um der Vergeltung durch die Soldaten zu entgehen. Einer von ihnen hatte bereits seinen Bogen gezückt und schoss einen Pfeil auf die Frau ab, die seinen Herrn so schwer verwundet hatte. Die Unglückliche sah ihr Leben schon als beendet an, als sie beobachtete, wie der Reiter seinen Bogen spannte und unternahm keinen Versuch der Flucht. Der Bogenschütze hatte gut gezielt und hätte mit Sicherheit ihr Herz getroffen, wenn der Pfeil nicht plötzlich in der Luft erstarrt und schließlich einfach zu Boden gefallen wäre. David Amersforth hatte mit einem Zauberspruch das Leben der Alten gerettet und sprach nun mit magisch verstärkter Stimme zu den aufgeregten Menschen auf dem Platz: „Haltet ein, alle miteinander! Verschont die Frau und das Dorf, ich werde Euren Herrn heilen und die Schuld des Vorstehers auf mich nehmen. Wenn ich sofort tätig werde, ist er noch zu retten! Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Für einen Moment herrschte Stille und es schien, als wäre die Zeit angehalten worden. Man konnte den Soldaten und Dörflern ansehen, dass sie erst verarbeiten mussten, dass sich David gerade als Zauberer offenbart hatte. Dann durchbrach der ranghöchste Offizier der Reitergruppe im autoritären Ton die Stille und wies seine Untergebenen an, den Grafensohn vom Pferd zu holen und in das nächste Haus zu tragen. Direkt im Anschluss stieg er von seinem Pferd und fragte den Magier, was er denn alles benötigte. Noch immer mit verstärkter Stimme, teilte David Amersforth ihm und seinen Männern eine Zutatenliste mit, welche er zur Herstellung der Arznei benötigte, aber auch Reib- und Mahlwerkzeug wurde gebraucht. Die Soldaten und noch anwesenden Brückensteiner stoben sofort auseinander, um in Windeseile die gewünschten Sachen zu besorgen. Im Haus der Niederraths wurde der junge Graf auf ein Bett gelegt und Amersforth machte sich an sein Werk. Das Beil war glücklicherweise noch nicht entfernt worden, sonst wäre Fabian von Reining vielleicht bereits auf dem Marktplatz verblutet. Zunächst bestand seine Aufgabe nur darin, zu verhindern, dass die Blutung zunahm, bis ihm endlich seine gewünschten Utensilien gebracht wurden. Skeptisch sah der Offizier dem Alchemisten zu, als dieser Rautengewächse wie Diptam und Nachtschattengewächse wie die schwarze Tollkirsche verarbeitete. Glücklicherweise wussten die Händler im Dorf, welche Pflanzen der wunderliche Mann für seine Forschungen regelmäßig benötigte, weshalb auch seltenere Gewächse in der kurzen Zeit zu beschaffen waren. Der Offizier öffnete kurz seinen Mund, um zum Protest anzusetzen, schloss ihn dann aber wieder. Es war ihm als Laie bewusst, dass manche dieser Pflanzen als giftig galten, doch nachdem sich David Amersforth bereits als Zauberer zu erkennen gegeben hatte, war die Hoffnung hoch, dass dieser auch von der Alchemie etwas verstand. Außerdem wäre es höchst sonderbar gewesen, wenn dieser Mann ihren verwundeten Herrn nun auch noch vergiften wollte, um ihm den Rest zu geben. Daher schickte er die anderen Leute aus dem Raum und nahm auf einem Stuhl in einer Ecke Platz, von wo aus er sowohl den verwundeten Fabian als auch den Zauberer, der dabei war eine Schnecke samt Haus zu zermahlen, beobachten konnte. Mit großer Geschicklichkeit stellte der Heilkundige zwei Tinkturen sowie eine Salbe her, mit denen er die Wunde reinigen, heilen und schließen konnte, nachdem er das Beil aus dessen Schulter entfernt hatte. Es war jedoch nicht so, dass die geglückte Heilung sofort feststellbar war, da die Verabreichung der Arznei zur Folge hatte, dass der junge Herr für einige Stunden in einen komatösen Zustand verfiel. Doch gegen Abend erlangte er sein Bewusstsein zurück und konnte am nächsten Morgen sogar in das beste Zimmer der Gaststätte des Dorfvorstehers verlegt werden, wo er sich noch eine Woche aufhielt, um völlig zu gesunden. Der Zauberer schaute regelmäßig nach ihm und verfolgte den Heilungsprozess. Am fünften Tag blickte der Adelige aus seinem Krankenbett zu dem Heiler empor und sprach endlich das Unausgesprochene aus: „Ich weiß, dass Ihr ein Zauberer seid, genauso wie das ganze Dorf. Doch stehe ich tief in Eurer Schuld, weshalb ich und meine Soldaten nicht gegen Euch vorgehen werden. Jedoch kann ich nicht versprechen, dass Euch nicht irgendwann jemand aus dem Dorf beim König verrät. Ihr solltet auf der Hut sein.“ Dies waren sehr gute Nachrichten für den Alchemisten, doch natürlich war ihm auch daran gelegen, dass der Dorfvorsteher und die Mutter des Bauern Müß begnadigt wurden, weshalb er Fabian von Reining alles über seinen Herstellungsprozess des falschen Silbers verriet und ihm auch seine Beweggründe offenbarte. Der junge Mann erzählte ihm daraufhin lachend, dass die Imitate mit der Zeit unglaublich matt geworden waren, aber sie das unechte Silber bei einem fahrenden Händler aus dem Osten gegen wertige Edelsteine eingetauscht hatten. Dem Grafen war somit kein finanzieller Schaden entstanden, aber dennoch musste er handeln, nachdem ihm offenbart worden war, dass man ihn betrogen und über ihn gelacht hatte. Doch diese Schuld sei nun durch Amersforths Hilfe getilgt und er wolle seinem Vater zudem dazu raten, die Steuern wieder herabzusenken. Auch für die Gefangenen im Schuldturm versprach er sich einzusetzen, doch er konnte nicht versichern, dass sein Vater diese in die Freiheit entlassen würde. David schaute den Reitern noch lange nach, als sie das Dorf wieder verließen und in Richtung Sonnenuntergang ritten. Nach ihrem Gespräch zu urteilen, handelte es sich bei Fabian auch um einen echten Fuchs, der List und Tücke einzusetzen wusste, daher war es fraglich, ob er ihm tatsächlich vertrauen sollte.
Schon wenige Wochen später bekam der Alchemist Besuch von zwei Boten, welche ihn aufforderten, sie zum Schloss zu begleiten, weil der alte Graf krank wäre. Da der Zauberer schon immer sowohl furchtlos als auch unvernünftig gewesen war, ritt er mit ihnen, obwohl es sich um eine Falle hätte handeln können. Dort angekommen wurde er in das Schlafzimmer des Schlossherrn geführt, welcher tatsächlich so aussah, als ob sein Tod nur noch eine Frage der Zeit war. Gegen das Alter kannte jedoch auch David Amersforth keine Heilung, was er dem Grafen und seinem Sohn mit Bedauern mitteilte. Der alte Herrscher zeigte sich einsichtig und sprach davon, dass er bereit für die nächste Reise wäre, nachdem seine Grafschaft ausreichend geschützt war und sein Sohn auch endlich die Reife besaß, um sein Nachfolger zu werden. Doch wünschte er sich, dass der Alchemist ihm den Übergang erträglicher machte. Zusammen mit dem Hofarzt erzeugte David daraufhin schmerzlindernde Medikamente, welche dem Grafen seine letzten Tage auf der Erde erträglicher machten und ihm sogar ermöglichten, noch ein letztes Mal durch seinen geliebten Schlossgarten zu spazieren. Nachdem Richard von Reining schließlich abberufen worden war und sein Sohn Fabian seinen Platz einnahm, bedankte dieser sich bei dem Alchemisten und ließ ihn zusammen mit den Gefangenen aus dem Schuldturm die Heimkehr antreten. Aus dem jungen Grafen wurde ein weiser und gerechter Regent, der sogar verfolgten Hexen und Zauberern Unterschlupf gewehrte, um diese zu schützen. Wenn sie ihn dann fragten, womit sie seine Güte verdient hatten, sagte er stets, dass sie diese seinem Lebensretter und Freund, dem Alchemisten, verdankten. David Amersforth setzte im Schutz der Dorfbewohner und den Soldaten des Grafen seine Forschungen fort, bis er im Alter von 70 Jahren schließlich weiterzog. Es war niemandem bekannt, wohin er aufgebrochen war, doch vermutlich begab er sich auf die Suche nach einer jungen, talentierten Persönlichkeit, welche er in seinem letzten Lebensabschnitt zu seinem Schüler oder seiner Schülerin erwählen konnte, um alle Errungenschaften weiterzureichen. Seine Tage waren gezählt, doch die Alchemie sollte durch seine Kollegen und Nachfolger auf der ganzen Welt weiterleben. Vielleicht würde es eines schönen Tages sogar einem Alchemisten gelingen, die Verwandlung unedler Metalle in feinstes Gold durchzuführen oder ein Lebenselixier herzustellen, welches den Tod bezwingen konnte. Ihm selbst waren diese Erfolge nicht gelungen, aber dennoch hatte David Amersforth sein Leben mit einem Sinn gefüllt. In den Herzen der Bewohner des Dorfes Brückenstein und Teilen der Grafschaft sollte er auf ewig als ihr Lebensretter, Zauberer und Alchemist in Erinnerung bleiben.
Ende